Krankheitsverarbeitung: Was tun, wenn die Seele hinterherhinkt?

Diagnoseschock

Die Diagnose „Krebs“ trifft die meisten Menschen plötzlich und unerwartet. Häufig führt diese Situation erst einmal zu einem Zustand der Orientierungslosigkeit, dem Gefühl der Überforderung und Angst – zum sogenannten „Diagnoseschock“. In den Beratungsgesprächen wird dieser Gefühlszustand immer wieder beschrieben „als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen“. Häufig geht nach der Diagnose alles Schlag auf Schlag, der medizinische Apparat übernimmt und der Tagesablauf wird bestimmt von Untersuchungs- und Behandlungsterminen. Viel Zeit für die psychische Verarbeitung dieser neuen Informationen und veränderten Bedingungen bleibt dadurch meist nicht. Es greift erst einmal eine Art natürliches Notfallprogramm, d.h. man versucht irgendwie zu „funktionieren“ und die Behandlung durchzuführen.

Aus diesem Grund dauert es oft eine Weile, bis die Betroffenen das Ausmaß der seelischen Belastung erkennen [1]. Häufig passiert das auch erst nach abgeschlossener Behandlung: Die Seele hinkt sozusagen hinterher.

Der erste Schritt der Krankheitsverarbeitung – das Bewusstwerden

Aber auch nach einer überstandenen Krebserkrankung ist häufig nicht wieder alles wie zuvor. Sowohl Erkrankung als auch Behandlung hinterlassen nicht nur körperliche, sondern auch psychische Spuren [2]. Bei uns in der Krebsberatungsstelle melden sich Betroffene daher auch oft erst nach abgeschlossener Therapie, weil sie dann erst realisieren, was sie erlebt haben und ihnen deutlich wird, dass sie für die weiteren anstehenden Schritte Unterstützung benötigen.

Vielleicht denken Sie sich jetzt auch: „Welche weiteren Schritte? Ich bin froh, wenn ich die Behandlung hinter mir habe und will dann von dem Ganzen nichts mehr wissen!“. Diese Reaktion ist sehr gut nachvollziehbar.

Allerdings haben die meisten Menschen eine ungefähre Vorstellung davon, wer sie sind, was sie können und was sie sich von der Zukunft erwarten. Diese Vorstellung wird jedoch durch eine Krebsdiagnose empfindlich gestört bzw. in Frage gestellt. Deshalb stehen Krebspatient:innen nach der medizinischen Behandlung vor der Herausforderung, sich neu zu orientieren und mit den durch die Krankheit veränderten Umständen zurechtzukommen. Dieser Anpassungsprozess an die neue Situation und die veränderten Lebensbedingungen wird als Krankheitsverarbeitung bezeichnet, bzw. in der Fachsprache als „Coping“ [3].

Akzeptanz – ein weiterer Schritt

Ein wichtiger Bestandteil der Krankheitsverarbeitung liegt in der Unterscheidung zwischen veränderbaren und unveränderbaren Bedingungen. Dies wird in dem Gelassenheitsgebet des US-Theologen und Philosophen Rainer Niebuhr sehr gut auf den Punkt gebracht: „Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Entscheidungen

Gelingt einem diese Unterscheidung, stellt sich zunächst die Aufgabe, die veränderbaren Dinge aktiv anzugehen und gestalterisch tätig zu werden, indem man versucht, bestehende oder erwartete Belastungen zu verringern, auszugleichen und zu verarbeiten. Bei den Dingen, die nicht veränderbar sind, geht es darum, zu lernen, diese zu akzeptieren [3]. Das ist oft gar nicht so leicht. Ich erlebe im Beratungsalltag immer wieder, dass Betroffene mit allen Mitteln versuchen, dem Lebensmodell hinterherzulaufen, das sie vor der Erkrankung hatten. Dieser Wunsch ist sehr verständlich. In der Regel ist eine Krebserkrankung jedoch ein so einschneidendes Erlebnis, dass eine Rückkehr zum Ausgangszustand, dem „Davor“, nicht möglich ist. Für die Krankheitsverarbeitung ist folglich eine Anpassung an die veränderten Umstände nötig, bei der bisherige Ansichten, Pläne und Ziele überdacht und neue Lebensentwürfe entwickelt werden müssen.

Hier ist – wie so oft – eine Balance hilfreich. Nicht alle Lebensbereiche sind von der Krankheit und ihren Folgen beeinträchtigt. Demnach ist es wichtig, auch die Bereiche zu suchen und zu pflegen, die von der Krankheit nicht oder kaum betroffen sind, z.B. durch Musizieren, Malen, Aufenthalt in der Natur, Gartenarbeit, kreatives Schreiben, soziales Engagement etc. [4]. In der Beratungsstelle nennen wir diese Bereiche „krebsfreie Inseln“ oder „Inseln der Normalität“.

Neuorientierung in kleinen Schritten

Identität

Ein weiterer wichtiger Schritt bei der Krankheitsverarbeitung, der in der Beratung mit Betroffenen oft deutlich wird, ist die Erkrankung als einen Teil von mehreren in das Leben einzuordnen und sich dem Leben wieder mit all seinen Facetten zuzuwenden. Während der Behandlung bestimmt die Erkrankung oft den Großteil des Lebens. Im Zuge der Krankheitsverarbeitung geht es dann um eine Neudefinition der eigenen Identität, bei der die Krankheit integriert wird, aber eben nur als eine Facette der ganzen Person. Die Bloggerin Claudia Altmann-Pospischek hat dafür einen, wie ich finde, sehr passenden Spruch gefunden: „Der Krebs ist nur mein Beifahrer. Die Richtung bestimme ich.“ [5]

Jede:r Patient:in erlebt die Behandlung und Erkrankung auf individuelle Art und Weise, sodass es für die Krankheitsverarbeitung leider kein allgemeingültiges Patentrezept gibt. Belastungen, Anforderungen und Möglichkeiten sind verschieden und somit ist auch die Krankheitsverarbeitung individuell. Es gibt allerdings viele verschiedene Bewältigungs- bzw. Copingstrategien für den unterschiedlichen Bedarf. Häufig beziehen sich diese Strategien auf die Ebenen Handeln, Denken und Fühlen. Auch der bisherige Umgang mit Problemen und Krisen im Leben spielt dabei eine Rolle (siehe Blogartikel zu Resilienz) [3].

Schritt für Schritt

Insgesamt ist die Krankheitsverarbeitung kein einmaliger Kraftakt. Die Anforderungen können sich je nach Krankheitsphase unterscheiden und auch für ein und denselben Menschen kann es in den unterschiedlichen Phasen der Erkrankung mehrere Möglichkeiten geben, damit umzugehen. Krankheitsverarbeitung ist dementsprechend ein längerer Prozess, der Zeit und manchmal auch Unterstützung benötigt. Ambulante Krebsberatungsstellen, wie bei uns am Tumorzentrum, können Sie bei dabei begleiten.

Abschließend möchte ich Ihnen zu diesem Thema noch ein Zitat von Randy Pausch mit auf den Weg geben: „Das ist die Realität. Wir können sie nicht ändern. Wir können nur bestimmen, wie wir damit umgehen. Wir können nichts an den Karten ändern, die wir bekommen, nur an dem Spiel, das wir mit diesem Blatt machen.“ [6]

Quellen

1] Spiegel: Wie bösartige Tumoren die Persönlichkeit verändern können. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/krebs-und-psyche-ich-war-nicht-mehr-ich-selbst-a-1048718.html. Letzter Zugriff am 14.10.2022.

[2] Spektrum der Wissenschaft: Das Leben nach dem Krebs. Abrufbar unter: https://www.spektrum.de/news/wie-krebs-die-psyche-belastet/1692612. Letzter Zugriff am 14.10.2022.

[3] Deutsches Krebsforschungszentrum in der Helmholtz-Gemeinschaft (dkfz): Leben mit Krebs: Krankheitsbewältigung. Abrufbar unter: https://www.krebsinformationsdienst.de/leben/krankheitsverarbeitung/bewaeltigung.php. Letzter Zugriff am: 14.10.2022.

[4] Buhl, P. A. (2019). Heilung auf Widerruf: Überleben mit und nach Krebs. Klett-Cotta.

[5] FSH_Postkarte_Metastasen-SH_final.pdf (frauenselbsthilfe.de)

[6] Randy Pausch: Last Lecture. Die Lehren meines Lebens, München: Goldmann 2010, S. 90.


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